Heute können Sie einen Gastbeitrag von Agnes Eroglu, Referentin im Ev. Studienwerk Villigst e.V. lesen.
Agnes erzählt darin zwei ihrer Kindheitserinnerungen an die Adventszeit als deutsch-türkisches Kind Anfang der 1970er. Viel Spaß bei Lesen!
„Weihnachten mit einem Gastarbeiter-Erziehungsberechtigten
Viele türkische Familien in Deutschland feiern Weihnachten inzwischen gleichberechtigt mit dem islamischen Zucker- oder Opferfest. Mit Geschenken und einem Tannenbaum. Doch das war nicht immer so. Zumindest nicht so selbstverständlich, wie fast 50 Jahre nach der ersten Generation von Gastarbeitern Mitte der 60er Jahre.
Ich gehöre der sogenannten Zweiten Generation an. Zumindest zu einem Teil. Mein Vater kam 1965 aus der Türkei nach Deutschland und heiratete meine Mutter – eine praktizierende Protestantin. Man kann sich vorstellen welche Welten da aufeinander trafen – ganz besonders und alle Jahre wieder – zum Weihnachtsfest. So bin ich, geboren an einem 6. Januar, türkisch-deutsch, evangelisch-muslimisch aufgewachsen und fühlte mich als „Dreikönigskind“ auch immer reich beschenk. Allerdings weniger mit Weihrauch, Myrre und Gold sondern mit einem Migrationshintergrund (zumindest per Definition bundesdeutscher Ministerien) und einem Gastarbeiter-Erziehungsbrechtigten. Was das zur Weihnachtszeit bedeutet, will ich hier gern an zwei kurzen Begebenheiten aus meiner Kindheit erzählen.
Stellen Sie sich vor, es ist 1972, im Vorharz, tief verschneit in der Nacht zum 6. Dezember, an dem die Kinder die Nikolausstiefelchen vor die Tür stellen. Für meinen Vater – den Türken – nicht ungewöhnlich. Schuhe gehören eh nicht ins Haus. Man zieht sie eben vor der Türe aus. Meine Nikolausstiefelchen wurden also fein säuberlich zwischen die ganzen anderen Schuhe vor der Tür postiert und warteten auf ihre „Füllung“. 1972 waren die Nikolausstiefelchen aus knall rotem Plastik mit einem weißen Filzbesatz am oberen Rand. Ich hatte davon einen großen und einen farblich identischen kleineren. Beide standen einträchtig nebeneinander als mein Vater im Dunkel nach Hause kam. Er sah diese „knall rot“ herausragenden Stiefelchen aus dem Pulk der Familienschuhe und meine Mutter hörte ihn schon draußen schimpfen: „Wer hat für Kind diese Schuh gekauft? Passt nix zusammen! Is nix Qualität! Is nix gesund für Kind diese Plastikschuh!“ und schon flogen die Nikolausstiefelchen im hohen Bogen in die Tonne. ….einmal werden wir noch wach, heißer dann ist Niklaustag ….
Dieser „Gastarbeiter-Erziehungsberechtigte“ hat im Laufe meiner Kindheit viel an „Lacher“ einstecken müssen. Obwohl er immer sehr bemüht war, sich den christlichen Feiertagen und dörflichen Traditionen unserer Gemeinde anzupassen. Darauf legte auch die türkische Seite meiner Familie großen Wert. Mein türkischer Großvater ließ sich regelmäßig von meiner Oma (dem „Familienoberhaupt“ der deutschen Seite) Bericht erstatten, ob sich ihr Schwiegersohn auch zu benehmen wisse und die „Integration“ Fortschritte mache. Meiner Oma blieben zwar bis zu ihrem Tod Bedenken, was die Integration betraf aber zu benehmen wusste sich mein Vater auf jeden Fall. Auch in der Küche half er immer fleißig und gern mit. So auch an einem Adventssonntag, an dem wir viel Besuch von deutschen Nachbarn und Freunden hatten und unter anderem auch von meinem türkischen Onkel Orhan – dem ältesten Bruder meines Vaters, dem eigentlichen „Chef“ der „Sippe“, der an seines Vaters Stelle den „Kontrollbesuch“ übernahm. Meine Oma hatte – wie immer – Bleche voll Kekse gebacken, die jetzt alle in hübschen Dosen und bunten Tellern verteilt auf die Tische gestellt wurden. Mein Vater übernahm die Platte mit den Vanillekipferln und konnte kaum den Blick davon lösen. Er war der festen Überzeugung, dass diese Kekse ausschließlich zu Ehren seines Bruders gebacken worden waren und rief voller Freude: „Schau doch Orhan, Schwiegermama hat extra für Dich türkische Halbmonde gebacken.“
Alle deutschen Gäste lagen vor Lachen unter dem Tisch – das wurde ein „running-gag“ in unserer Familie – Alle Jahre wieder backen wir nun lachend im Advent türkische Halbmonde!
Der Gerechtigkeit halber sei noch kurz erwähnt, dass es meiner Mutter innerhalb der türkischen Community auch nicht besser erging – auch sie hat für reichlich „running-gas“ auf der „anderen Seite“ gesorgt.
In diesem Sinne – allen eine gesegnete Adventszeit und ein frohes Weihnachtsfest!
Agnes Eroglu“